Manipulierte Beweise und konstruierte Vergewaltigungsvorwürfe in Schweden, Isolationshaft in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis und die Aussicht auf 175 Jahre Haft in den USA. Dies ist die Strafe für die Aufdeckung von Kriegsverbrechen.
Es gibt viele Beispiele der politischen Verfolgung in jüngerer Geschichte, doch wohl kaum eines hat im Westen höhere Wellen geschlagen als der Fall von Julian Assange. Zugleich ist es ein oft missverstandener Fall, der durch verzerrte Medienberichte ins falsche Licht gerückt wurde. Es ist ein Präzedenzfall von großer Tragweite, der zeigt, dass Presse- und Meinungsfreiheit längst auf dem Spiel steht.

Chronologie einer Verfolgung
Die Geschichte der politischen Verfolgung von Julian Assange reicht bis mindestens 2010 zurück. Um die Ereignisse besser einordnen zu können, lohnt sich daher ein Überblick:
Somit wurde Julian Assange seit etwa 15 Jahren verfolgt, wovon er sieben Jahre im Exil der Botschaft Ecuadors und fünf Jahre im Hochsicherheitsgefängnis von Belmarsh verbrachte.
Die Rolle von WikiLeaks
WikiLeaks wurde 2006 von Julian Assange und weiteren Aktivisten als Enthüllungsplattform gegründet, mit dem ausdrücklichen Auftrag, Dokumente von öffentlichem Interesse zu publizieren, welche andererseits durch Geheimhaltung und Zensur in ihrer Zugänglichkeit beschränkt sind. Die erklärten Grundprinzipien der Organisation sind dabei die hohe Relevanz des veröffentlichten Materials für die allgemeine Öffentlichkeit einerseits, als auch der absolute Schutz und die Anonymisierung der Quellen andererseits, was durch das effektive Anonymisierungsnetzwerk Tor sichergestellt ist. Das Unternehmen ist vollkommen selbst- und spendenfinanziert, lehnt Finanzierung durch Unternehmen und Regierungen ab und zählte 2010 nur fünf Mitarbeiter, welche unentgeltlich und in Vollzeit arbeiteten, während über 800 Personen sporadisch Beiträge lieferten. Zugleich wurde WikiLeaks auch stets von Medienunternehmen wie Associated Press oder der National Newspaper Association mittels Anwälten unterstützt. Auf die Frage, weshalb Medien WikiLeaks unterstützen, antwortete Assange: „Sie sehen uns als eine Organisation, die es ihnen leichter macht, das zu tun, was sie tun. Und sie sehen uns als schwächstes und empfindlichstes Glied im System. Wir nehmen uns die publizistisch schwierigsten Fälle vor. Wenn wir juristisch besiegt werden, könnten sie die nächsten sein. In anderen Worten: Wenn wikileaks.org aufgrund eines Gerichtsverfahrens geschlossen wird, wird vielleicht bald dieselbe Argumentation genutzt, um nytimes.com zu schließen oder auch spiegelonline.“ 1
WikiLeaks betrachtet sich daher auch als wichtiger Zulieferer für investigativen Journalismus. Bereits in den ersten Jahren der Tätigkeit entwickelte sich WikiLeaks zur bevorzugten Kontaktadresse von anonymen Quellen, Regimekritikern und Whistleblowers in autokratischen und demokratischen Systemen. Erste öffentlichkeitswirksame Inhalte waren Berichte zur Korruption des ehemaligen kenianischen Präsidenten Daniel Arap Moi im Jahr 2007, Mitgliederlisten der rechtsextremen British National Party und Internetsperrlisten verschiedener Länder im Jahr 2008, als auch Entwürfe zu geheimen Abkommen zwischen EU und USA zur Weitergabe europäischer Bankdaten im Jahr 2009. 2 2010 sollte schließlich zum Schlüsseljahr für WikiLeaks werden: Es kam nicht nur zur Veröffentlichung etlicher brisanter Berichte, sondern auch zu einer nie dagewesenen Welle von Repressionen.

Im April 2010 veröffentlicht WikiLeaks mit Collateral Murder das geheime Video der Bordkamera eines Apache-Kampfhubschraubers während eines US-Einsatzes in Bagdad, welches die unprovozierte und wahllose Tötung von über einem Dutzend Personen, darunter zwei Reuters-Journalisten, zeigt. 3 Im Juli 2010 veröffentlicht WikiLeaks über 75 000 interne Dokumente über den Krieg in Afghanistan (Afghan War Diaries). Diese bestehen großteils aus Frontberichten des US-Militärs und belegen die Existenz der US-Elitetruppe Task Force 373 zur illegalen Tötung von vermuteten Taliban-Anführern, die Benutzung von Streumunition in Bruch der Genfer Konvention, als auch eine zunehmend prekäre Sicherheitslage und ein Kontrollverlust der von den westlichen Alliierten installierten afghanischen Regierung unter Präsident Hamid Karzai. Im Oktober 2010 kommt es schließlich mit den Iraq War Logs, welche beinahe 400 000 geheime Einträge über den Irak-Krieg enthalten, zur größten Veröffentlichung von militärischen Dokumenten in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Die Dokumente zeigen, dass etwa zwei Drittel der unmittelbaren Opfer des Irak-Krieges Zivilisten waren (66 081 von 109 032 , mit bis zu 600 000 geschätzten zivilen Todesopfern bis zum Ende der Besatzung 2011). 4 Sämtliche Enthüllungen von WikiLeaks wurden zeitgleich von etablierten Medien wie Spiegel, New York Times und Guardian veröffentlicht und erreichten damit ein weltweites Publikum. Nach einer Erhebung von Reuters hatte WikiLeaks zu diesem Zeitpunkt die Zustimmung von über drei Viertel der Bevölkerung in über 24 Staaten, und von über 40% der amerikanischen Bevölkerung. 5 Als unmittelbare Reaktion auf die Veröffentlichungen kam es zur Sperrung der Website-Domäne in etlichen Ländern, darunter Deutschland und USA. Die Regierungen von China, Israel, Nordkorea, Russland, Simbabwe, Thailand und Türkei sperrten den Zugang zu WikiLeaks zumindest zeitweise. Zusätzlich sperrte Amazon sämtliche von WikiLeaks genutzte Server. Mastercard, Visa, und PayPal verweigerten 2010 die Abwicklung von Transaktionen an WikiLeaks, was zu einem Verlust von 95% der Einkünfte des ausschließlich spendenfinanzierten Unternehmens führte. 6
Schwedens unhaltbare Vergewaltigungsvorwürfe
Im Jahre 2010 reist Julian Assange nach Schweden, einerseits um auf Einladung schwedischer Sozialdemokraten einen Vortrag zu halten, andererseits um eine offizielle Anerkennung als gesetzlich geschützte Presseorganisation durch schwedische Behörden zu erreichen. Während seinem Aufenthalt
kommt es zum Kontakt mit zwei Frauen, welche sich später bei der Polizei melden um einen HIV-Test von Assange zu erwirken. Die Vorwürfe und folgenden Maßnahmen der schwedischen Behörden werden im Detail von Nils Melzer, Professor für Internationales Recht und UN-Sonderberichterstatter, in seinem Buch „Der Fall Julian Assange“ analysiert. 7 Die Vernehmungsprotokolle wurden von den schwedischen Behörden im Nachhinein bearbeitet und der Vorwurf der Vergewaltigung wurde konstruiert, obwohl beide Frauen diesem widersprechen und Assange eindeutig entlasten. Es ging ihnen nach eigener Angabe lediglich um die mögliche Einforderung eines Tests nach einvernehmlichem Geschlechtsverkehr. Nach Aussagen der beiden Frauen hat es jedoch nie eine Vergewaltigung gegeben. Eine der Frauen sollte später angeben, sie hatte das Gefühl „von der Polizei und anderen Personen um sie herum überfahren zu werden“ und dass man Assange offensichtlich „in die Finger kriegen“ wolle. Zusätzlich wurden die Vorwürfe noch am selben Tag (nur zwei Stunden nach Einvernehmung der Frauen) von der Staatsanwaltschaft an die schwedische Tageszeitung Expressen weitergegeben und verbreiteten sich schnell global. Assanges Erfolgsgeschichte wird damit zu einer Verfolgungsgeschichte. Er wird sich die nächsten neun Jahre in der schwedischen strafrechtlichen Voruntersuchung befinden, mit ständiger impliziter Androhung einer Auslieferung an die USA, ohne dass es aufgrund mangelnder Beweise jemals zu einer Anklage kommt. Daher kann sich Assange auch niemals juristisch dagegen zur Wehr setzen und verteidigen, obwohl er sich nachweislich mehrfach bei den schwedischen Behörden meldet um zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. „Was sich in Schweden im Rahmen einer strafrechtlichen Voruntersuchung innert weniger Wochen an Rechtsbrüchen akkumuliert hat, ist absolut grotesk“, sagt Nils Melzer zu den Vorfällen.

Exil in der Botschaft von Ecuador und Isolationshaft in Belmarsh
Nicht die Vorwürfe der schwedischen Behörden waren es, sondern deren Weigerung, Assange eine Garantie gegen seine Auslieferung an die Amerikaner zu geben, welche ihn im Juni 2012 zur Flucht in die ecuadorianische Botschaft bewog. Zudem drohte Schweden mit unmittelbarer Verhaftung, selbst falls keine Anklage erfolgen sollte. Ecuador gewährte ihm Asyl als politischer Flüchtling. Mit der Flucht ins ecuadorianische Exil verletzte Assange die britischen Kautionsauflagen im Zusammenhang mit dem schwedischen Auslieferungsverfahren. Nachdem Ecuador 2017 eine neue Regierung bekommt und der US-Kongress dem Land Kooperation und Kredite in Aussicht stellt, wird Assanges Asyl kurz darauf aufgehoben und es kommt noch am selben Tag zur Verhaftung durch die britische Polizei. Er wird unmittelbar dem Richter vorgeführt, welcher ihn mit den folgendenWorten zu 50 Wochen Haft verurteilt: „Sie sind ein Narzisst, der nur an seine eigenen Interessen denkt. Ich verurteile Sie wegen Verletzung der Kautionsauflagen.“ 8 Damit wurde das Maximalstrafmaß von 52 Wochen beinahe vollkommen ausgeschöpft für Verstoß gegen Kautionsauflagen, ein Vergehen für das es in Großbritannien üblicherweise lediglich Geldbußen oder Haftstrafen von wenigen Tagen gibt. Seither befand sich Julian Assange in fast vollständiger Isolationshaft im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh unter Bedingungen, die sonst nur für Schwerverbrecher vorgesehen sind. Nils Melzer spricht von „gezielter psychologischer Folter“, mit messbaren kognitiven und neurologischen Schäden. Im Dezember 2021 erleidet Assange einen Schlaganfall während einer Berufung vor dem Obersten Gerichtshof in London.
Quellen
- S. Mey. Leak-o-nomy: Die Ökonomie hinter WikiLeaks (Interview mit Julian Assange) (Link), January 2010. ↩︎
- WikiLeaks. Leaks (Link), Juni 2024. ↩︎
- WikiLeaks. Collateral Murder (Link), April 2010. ↩︎
- WikiLeaks. War Diaries (Link), October 2010. ↩︎
- WikiLeaks. Transcript of secret meeting between Julian Assange and Google CEO Eric Schmidt (Link), April 2013. ↩︎
- Democracy Now. Julian Assange on WikiLeaks, Bradley Manning, Cypherpunks, Surveillance State (Link), November 2012. ↩︎
- N. Melzer. The Trial of Julian Assange: A Story of Persecution. Verso Books, 2022. ↩︎
- Republik. „Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System“(Link), January 2020. ↩︎